Dienstag, 5. Mai 2015

Randnotiz: Bücher, Horizonte und Serendipität


Man sagt mir nach, ich sei ein Bücherwurm, wer es gut mit mir meint, nennt das „bibliophil“. Klingt weniger anzüglich, sagt aber im Wesentlichen dasselbe. Das ist umso verwunderlicher, weil meine Eltern nicht unbedingt als Bildungsbürger durchgegangen wären. In der Gegend und Zeit, aus der sie stammten, war nach vier oder fünf Jahren die Schulkarriere in der Regel abgeschlossen. Jedenfalls für die Normalsterblichen und unabhängig davon, was sie tatsächlich an Anlagen mitbrachten. Bücher oder – Gott bewahre - Romane wurden in dieser Zeit dort als Teufelszeug betrachtet. Der Konsens war, dass man durch Bücher auf dumme Gedanken kommen konnte. Oder etwa anfing Fragen zu stellen, sich womöglich Dinge zu wünschen, die nicht für einen bestimmt waren. Es war die Zeit, in welcher der Begriff „Herrschaftswissen“ noch sehr, sehr wörtlich zu nehmen war. Aber meine Eltern waren irgendwie anders. Zum einem packten sie die Koffer und verließen ihre Heimat, zum anderen gab es bei uns immer Zeitungen, Zeitschriften und Bücher im Haushalt. In den Jahren nach dem Krieg war das nicht selbstverständlich, denn Druckerzeugnisse hatten einen weit höheren Stellenwert als heute. Sie waren seltener und sie kosteten richtig Geld. Mag sein, das dies auch durch den Inhalt gerechtfertigt war – jedenfalls geht mir das zuweilen bei der Lektüre heutiger Werke durch den Kopf.

Kaum konnte ich lesen, pflügte ich durch die Leihbüchereien von Pfarrei und Stadt. Ich las was mir in die Finger kam, mit einer Schlagseite hin zu Sachbüchern und Lexika. Geschichten, in denen Technik und Zukunft vorkam, waren auch gut, Jules Verne oder Isaac Asimov zum Beispiel. Später im Beruf war ich oft der einzige, der - aus Gewohnheit - die Bedienungsanleitungen las, was mir zu einem Ruf der Technikaffinität verhalf. Karl May hingegen fand ich schon immer langatmig, vor allen die Stellen wo es um Gott, Moral und die Welt an und für sich geht. Etwas verstört hat mich Haruki Murakami - aber der ist jetzt wirklich ein Thema für sich. Adler, Freud und C.G. Jung fand ich interessant, auch Gustave LeBon, Edward Bernays oder Daniel Kahnemann gehören zu jenen, die mir ein paar Lichter aufsteckten.

Einmal, im Haus einer Psychologin, stand ich beindruckt vor der Bücherwand. Diese war in einem offenen Treppenhaus angebracht und reichte vom Erdgeschoss über das Obergeschoss bis unter das Dach: abertausende Bücher. Das Wassermann-Zeitalter war angebrochen und viele, die sich mit Psychologie befassten, hatten sich auf den Weg in ferne Gedankenwelten gemacht. Manchmal sogar physisch bis nach Indien und Kalifornien. Das Thema war Bewusstseinserweiterung, zuweilen mit etwas zum Einnehmen, manchmal mit aberwitzigen Körperübungen oder warmen Wasser, gerne auch glühende Kohlen und hin und wieder alles zusammen. Da erzählte also die Psychologin, ein indischer Yogalehrer mit beeindruckender Aura hätte eben dort vor dieser Bücherwand gestanden und sie unvermittelt gefragt: „Was suchst Du eigentlich?“

Ich war etwas perplex, denn bis dahin hatte ich das Lesen nicht als Suche nach irgendetwas aufgefasst. Ich las aus Gewohnheit, einfach so, weil ich es konnte. Manchmal weil ich es wissen wollte und manchmal weil es notwendig war. Aber suchen? Dann erlebte ich diesen seltsamen Moment wo ich irgendein persönliches Problem hatte, ich weiß noch nicht einmal mehr, worum es ging. Was mich aber wie ein Hammerschlag traf war, dass ich mich Zeitung lesend wiederfand und mich wunderte, dass in genau dieser Zeitung nichts über mein spezielles Problem stand. In dem Augenblick wurde mir die ganze Absurdität dieses unbewussten Umgangs mit Druckerzeugnissen deutlich. Danach war das Lesen nicht mehr das, was es vorher war, es hatte die Unbekümmertheit verloren.

Heute gibt es eine Flut von Ratgebern. Manchmal bekommt man so richtig Lust, sich das Problem zuzulegen, um aus der angebotenen Lösung Nutzen ziehen zu können. Manche dieser Bücher befassen sich mit praktischen Themen, sagen wir Goldfische züchten. Manche befassen sich mit der Selbstoptimierung, wie wir schlank, schön und reich werden. Manche befassen sich damit, ob die Welt überhaupt existiert, ob es einen Gott gibt und falls ja, was er sich so gedacht hat und wozu uns das verpflichtet. Gerade letztere Bücher haben mitunter erstaunliche Folgen für die Leser und ihre Umwelt. Da erhält das geschriebene bzw. gedruckte Wort die Macht zurück, die es in früheren Zeiten hatte. Es ist mehr als eine Sicht der Dinge, es wird zur absoluten Wahrheit, buchstäblich zum Totschlagargument.

Die andere Geschichte, die mir dazu einfällt ist diese: In Indien werden Elefanten als Arbeitstiere gehalten. Sie sind groß, sie sind stark und so ein kleiner Mensch ist eigentlich kein Gegner. Nach der Arbeit sollen die Elefanten nicht weglaufen, sondern dort bleiben, wo man sie am nächsten Tag wiederfinden möchte. Hohe Mauern und starke Ketten fallen einem zu einem großen und mächtigen Tier ein. Aber so wird das nicht gemacht. Der Elefant wird Zeit seines Lebens mit einer dünnen Schnur an einen kleinen Pflock angeleint. Sobald er den Widerstand an seinem Bein spürt, geht der Elefant nicht weiter. Er denkt, dass er es nicht kann, weil er es als kleiner Elefant nicht konnte. Jetzt ist er ein großes, starkes Tier und bleibt in einem kleinen Kreis um diesen lächerlichen kleinen Pflock herum. Diese dünne Schnur, nichts als eine Gewohnheit, definiert seinen Horizont.

Was suche ich denn jetzt in Büchern? Zum einen lese ich nicht mehr alles was mir in die Finger kommt. Zum anderen lege ich diese Tage schon mal ein Buch weg, ohne es ganz gelesen zu haben. Manche Bücher erweitern den Horizont. In manchen findet man Nützliches, was man nicht gesucht hat – es gibt sogar ein Wort dafür, auch wenn es der Duden nicht kennt: Serendipität. Diese Bücher sind das Gegenteil von jener Schnur mit dem kleinen Pflock. Aber ich bleibe wachsam. Damit nicht irgendwelche Elefantentreiber ihren Horizont doch noch zu meinem machen. 
-Donato Casagrande-

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