Dienstag, 17. November 2015

Sterben üben

Sterben üben

Ganzheitliche Trauer- und Sterbebegleitung, drei Jahre lang durfte ich mit sieben Co-Autorinnen an einem Buch zu diesem Thema schreiben. Wir sind gemeinsam durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Danach konnte ich zunächst keinen Artikel, kein Buch mehr zu diesem Thema lesen, ich konnte das Wort Sterben nicht mehr hören. Drei Jahre Sterblichkeit als zentrales Thema waren mir zunächst zu viel … doch sie waren prägend und dafür bin ich sehr dankbar.
Ich bin älter geworden, je nach Lebensperspektive würden einige sagen, dass ich alt bin. Selbst empfindet man das Alt-werden zunächst gar nicht. So einige Zipperlein, die gab es schon länger, ich maß ihnen zunächst keine Bedeutung zu.
Im Kopf bin ich immer noch 25 und erwarte von mir entsprechende Leistungen. Ich bin ein wenig beleidigt, wenn es im Alltag dann doch nicht so schnell geht, oder wenn ich nach erfülltem Plan ein, zwei Tage erschöpft bin. Hat das mit Alt-werden zu tun?
Irgendwann in den letzten Monaten begriff ich, es geht tatsächlich nicht mehr alles so wie bisher. Da musste ich mir eingestehen, dass die Schmerzen daher kommen, dass ich mich übernommen habe, beim Wandern, beim Putzen, beim morgendlichen Körpertraining. Mein Körper bockt! Auch beim Essen – die Umstellung kam schleichend – nicht mehr so viel Fett, nicht mehr so große Portionen, nicht mehr so spät am Abend… die Lieblingsspeisen liegen schwerer auf, ein wenig Enzyme hier, ein wenig Bitterstoffe da. Auf einmal sah ich mich umgeben von Fläschchen und Flaschen – ganz wie Oma damals …
Der aktive Lebensabschnitt im Außen neigt sich unerbittlich dem Ende entgegen - was kommt jetzt, was kommt danach? Sterben üben … schießt es mir durch den Kopf. Ja genau, was ich hier wahrnehme ist Sterben im Kleinen: Loslassen von liebgewordenen Gewohnheiten, von bewährten Arbeitsschritten, von durchorganisierten Wochenplänen. Es war schon immer da – doch habe ich es bisher nie so deutlich bemerken wollen – dieses Auflösen gewohnter Strukturen, dieses Platz machen für unbekanntes Neues.


Ich lade Sie ein, gemeinsam mit mir einen Schritt zurück zu treten und mit etwas mehr Abstand auf das eigene Leben schauen. Ich lade Sie ein, dies auch zu tun wenn Sie noch ganz jung sind und/oder einen gewaltigen inneren Widerstand spüren. Warum? Sterben ist das einzige, was uns in unserem Leben sicher ist - alles andere ist es nicht. Wenn ich diesen Gedanken zulasse, dann ist eine heilsame Konsequenz daraus, mich auf das einzig Sichere, das große Finale, vorzubereiten, in meinem Tempo, meinem Wesen entsprechend, in kleinen Schritten.
Das Leben ist weder gut noch schlecht, weder freundlich noch unfreundlich, weder gerecht noch ungerecht, das Leben ist. Und es gibt uns täglich Gelegenheiten zu lernen, zu üben, zu achten und zu beobachten – es kommt und geht – mal in absehbaren Rhythmen, mal chaotisch. Und in unser aller Leben gibt es Gelegenheiten zu erkennen, dass die Dinge vergehen, vergehen müssen, um Neuem Raum zu schaffen. Wir erneuern uns mit jedem Atemzug und wir sterben mit jedem Atemzug. Was für ein grandioses Geheimnis! Lohnt es sich da nicht, durch Aufmerksamkeit die Weisheit des Lebens wahrzunehmen, anzunehmen und in den eigenen Alltag bewusst zu integrieren?
Seit dreißig Jahren gebe ich zu wechselnden Themen Seminare, in vielen Städten Deutschlands, auch in Österreich und der Schweiz. Wie lange will ich dies noch tun? Reisen, in fremden Hotelbetten schlafen, ungewohntes Essen, viele Kilometer in wenigen Tagen zurücklegen? Ist es meinen innersten Bedürfnissen noch angemessen? Gehen Körper, Seele und Geist noch harmonisch Hand in Hand? Oder muss ich lernen mich zu verabschieden? Von dieser Stadt? Von jenem Seminarort? Zu sagen: hier war ich nun zum letzten Mal?
Wie fühlt sich das an? Was kommt danach? Nichts mehr - gähnende Leere? Neue Ideen? Andere Formen der Wissensweitergabe? Ich weiß es nicht. Ich stehe auf dem Sprungturm, 10 Meter über dem Wasser, das Brett wippt gewaltig, wage ich zu springen? Ins Bodenlose, Eintauchen in das Leben, wie es ist – für mich jetzt ist? Sterben üben …
Abends unter der Dusche – ist das wirklich noch mein Körper? Hier Falten, dort braune Flecken auf der Haut, die Füße – viel breiter als früher, die schmale Taille – Vergangenheit! Loslassen vom eigenen Bild des perfekten Seins, anerkennen, dass es andere Dinge gibt, die nachhaltiger, erstrebenswerter sind. Den Mittelweg finden zwischen sich selbst nicht wichtig nehmen und sich selbst Wert schätzen, so wie es mein Sein benötigt und verdient … Sterben üben.
Alte Freunde/Innen treffen, sie sind älter, einige Jahre älter, den Abschied in ihren Augen lesen. Sehen wir uns heute zum letzten Mal … Sterben üben.
Und all das Neue um mich herum – die neuen Formen des Vernetzt-Seins, der Kommunikation, des Austauschs, gehe ich mit, beschreite ich neue, für mich unbequeme Wege? Oder lasse ich sie ziehen, die Jüngeren, die Geschickteren, die Interessierteren - in eine mir fremde, mich ängstigende, herausfordernde Zukunft - in das Leben selbst?

Das Leben ist - und dazu gehört für mich - Sterben üben.