Montag, 19. Oktober 2015

Randnotiz: Realität und andere Kleinigkeiten

Neulich bin ich über einen Artikel in einer großen Tageszeitung gestolpert, die damit wirbt, nur kluge Köpfe würden dahinter stecken. Worum es ging ist - wir werden es gleich sehen - nicht so wichtig, ich dachte nur, ich würde mich mit dem behandelten Thema auskennen. Was Darstellung, Wahrnehmung und Realität betrifft, bin ich eigentlich nicht besonders naiv - vermutlich liegt das am Alter. Trotzdem kann ich mich bei der Lektüre mancher Artikel kaum gegen Zweifel wehren, ob nicht etwa ich derjenige bin, der völlig daneben liegt. Aber hey, da stecken kluge Köpfe dahinter. Sind das jetzt eigentlich die Zeitungsmacher oder die Leser? Und was genau machen die da, hinter der Zeitung?

Meine letzte Zuflucht in solchen Fällen ist ein Kalauer aus dem Buch „Per Anhalter durch die Galaxie“ von Douglas Adams. Es handelt überraschender Weise von einem Reiseführer durch die Galaxie. Auf dem Umschlag des Reiseführers, so steht dort, ist zur Beruhigung der Leser die Aufschrift angebracht: „Keine Panik!“. Die Redaktion des Reiseführers soll auf Beschwerden von Reisenden über unzutreffende Information wie folgt eingehen: „Die Realität ist häufig ungenau. Maßgeblich sind die Angaben im Reiseführer.“

Wie fast immer haben es die Yogis und Weisen aus dem fernen Osten schon immer gewusst. Die sieben Schleier der Maya - diese Existenz - ist nichts als Illusion, auch wenn mir das angeschlagene Schienbein noch so weh tut. Realität ist Wahrnehmung plus Emotion und daher leider so beliebig wie sonst was. Jeder hat seine eigene Wahrnehmung, die Realität in der er lebt: nichts als eine Einflüsterung unserer Sinne und des Hormonhaushaltes - von ein paar nebensächlichen Tatsachen einmal abgesehen. Wer inneren und äußeren Frieden, gar die Freiheit sucht, sollte das im Auge behalten.

Ich sitze hier, mein Blick schweift über die sonnenbeschienene Riva Schiavoni und vor mir auf dem Tischchen steht der Campari zum Preis der schönen Aussicht. Klar, die Yogis haben Recht. Aber was mache ich, wenn ich statt der Spitze des Glockenturms von San Marco auf – sagen wir – ein Minarett in Fallujah sehen würde? Fallujah liegt etwa 70 km westlich von Bagdad und ist seit babylonischer Zeit besiedeltes Gebiet, eine Stadt mit etwa 200 Moscheen - und Schauplatz unzähliger Gefechte und Gräueltaten, jetzt gerade auch. Wer, warum, wann und weshalb – was spielt das für eine Rolle? Wenn ich da leben würde, wäre das einfach nur Pech gewesen? Steht mir in einer solchen Umgebung auch der Weg frei, mir meine Realität zu schaffen, den inneren Frieden zu finden? Spielt das eine Rolle für mich oder ist mein Sitzen in Venedig und mein Wissen über Falludjah nur Teil derselben Illusion - einer, in der neben der Schönheit auch das Wissen um Schreckliches enthalten ist? Lebt ein Mensch im Irak dann nur eine Illusion, in der die Kanäle von Venedig eben nicht vorkommen und sie deshalb auch nicht vermisst werden?

An anderer Stelle steht geschrieben, dass die Illusion sich nicht von der Realität unterscheidet. Was ich da verstehe ist: das Schienbein tut weh, weil es ein Schienbein ist und das Hindernis hart ist. Die Illusion kommt an der Stelle ins Spiel, wenn ich eine Meinung dazu habe, wenn ich Erklärungen dazu abgebe, warum das gerade mir, hier und jetzt passiert. Wenn der Schmerz eben nur der Schmerz und nichts anderes ist, dann habe ich eine Chance der Illusion ein Schnippchen zu schlagen. So oder so kann der Rat aber nur lauten: meide Hindernisse in Schienbeinhöhe, ganz gleich welche Meinung Du dazu hast. Alles andere gibt blaue Flecken.

Was hat dies nun mit inneren Frieden zu tun in einer Welt, die alles andere als friedlich ist? Wo geht es hier zur Freiheit? Die blauen Flecken sind der Schlüssel. Die Yogis sagen, friedlich und frei wirst Du dann, wenn Du die blauen Flecken blaue Flecken sein lässt, nach vorne schaust und tust was im Augenblick das Beste für Dich ist. Die Vergangenheit ist vorbei und wenn Du Dich selbst beschimpfst oder Dich am Hindernis rächst, dann haben die blauen Flecken Deine Zukunft geformt. Du aber wirst glauben, Du hättest eine Entscheidung getroffen, seist Täter, Opfer oder irgendwas dazwischen und genau das ist die Illusion. Deine ganz private, ausbaufähige Illusion. Wir geben dieser Illusion einen Namen: Realität. Keine Panik!