Sterben üben
Ganzheitliche Trauer- und Sterbebegleitung, drei Jahre lang
durfte ich mit sieben Co-Autorinnen an einem Buch zu diesem Thema schreiben.
Wir sind gemeinsam durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Danach konnte ich zunächst
keinen Artikel, kein Buch mehr zu diesem Thema lesen, ich konnte das Wort Sterben
nicht mehr hören. Drei Jahre Sterblichkeit als zentrales Thema waren mir
zunächst zu viel … doch sie waren prägend und dafür bin ich sehr dankbar.
Ich bin älter geworden, je nach Lebensperspektive würden
einige sagen, dass ich alt bin. Selbst empfindet man das Alt-werden zunächst
gar nicht. So einige Zipperlein, die gab es schon länger, ich maß ihnen zunächst
keine Bedeutung zu.
Im Kopf bin ich immer noch 25 und erwarte von mir
entsprechende Leistungen. Ich bin ein wenig beleidigt, wenn es im Alltag dann doch
nicht so schnell geht, oder wenn ich nach erfülltem Plan ein, zwei Tage
erschöpft bin. Hat das mit Alt-werden zu tun?
Irgendwann in den letzten Monaten begriff ich, es geht
tatsächlich nicht mehr alles so wie bisher. Da musste ich mir eingestehen, dass
die Schmerzen daher kommen, dass ich mich übernommen habe, beim Wandern, beim
Putzen, beim morgendlichen Körpertraining. Mein Körper bockt! Auch beim Essen –
die Umstellung kam schleichend – nicht mehr so viel Fett, nicht mehr so große
Portionen, nicht mehr so spät am Abend… die Lieblingsspeisen liegen schwerer
auf, ein wenig Enzyme hier, ein wenig Bitterstoffe da. Auf einmal sah ich mich
umgeben von Fläschchen und Flaschen – ganz wie Oma damals …
Der aktive Lebensabschnitt im Außen neigt sich unerbittlich
dem Ende entgegen - was kommt jetzt, was kommt danach? Sterben üben … schießt
es mir durch den Kopf. Ja genau, was ich hier wahrnehme ist Sterben im Kleinen:
Loslassen von liebgewordenen Gewohnheiten, von bewährten Arbeitsschritten, von
durchorganisierten Wochenplänen. Es war schon immer da – doch habe ich es
bisher nie so deutlich bemerken wollen – dieses Auflösen gewohnter Strukturen,
dieses Platz machen für unbekanntes Neues.
Ich lade Sie ein, gemeinsam mit mir einen Schritt zurück zu
treten und mit etwas mehr Abstand auf das eigene Leben schauen. Ich lade Sie
ein, dies auch zu tun wenn Sie noch ganz jung sind und/oder einen gewaltigen inneren
Widerstand spüren. Warum? Sterben ist das einzige, was uns in unserem Leben
sicher ist - alles andere ist es nicht. Wenn ich diesen Gedanken zulasse, dann
ist eine heilsame Konsequenz daraus, mich auf das einzig Sichere, das große
Finale, vorzubereiten, in meinem Tempo, meinem Wesen entsprechend, in kleinen
Schritten.
Das Leben ist weder gut noch schlecht, weder freundlich noch
unfreundlich, weder gerecht noch ungerecht, das Leben ist. Und es gibt uns
täglich Gelegenheiten zu lernen, zu üben, zu achten und zu beobachten – es kommt
und geht – mal in absehbaren Rhythmen, mal chaotisch. Und in unser aller Leben
gibt es Gelegenheiten zu erkennen, dass die Dinge vergehen, vergehen müssen, um
Neuem Raum zu schaffen. Wir erneuern uns mit jedem Atemzug und wir sterben mit
jedem Atemzug. Was für ein grandioses Geheimnis! Lohnt es sich da nicht, durch
Aufmerksamkeit die Weisheit des Lebens wahrzunehmen, anzunehmen und in den
eigenen Alltag bewusst zu integrieren?
Seit dreißig Jahren gebe ich zu wechselnden Themen Seminare,
in vielen Städten Deutschlands, auch in Österreich und der Schweiz. Wie lange
will ich dies noch tun? Reisen, in fremden Hotelbetten schlafen, ungewohntes
Essen, viele Kilometer in wenigen Tagen zurücklegen? Ist es meinen innersten
Bedürfnissen noch angemessen? Gehen Körper, Seele und Geist noch harmonisch
Hand in Hand? Oder muss ich lernen mich zu verabschieden? Von dieser Stadt? Von
jenem Seminarort? Zu sagen: hier war ich nun zum letzten Mal?
Wie fühlt sich das an? Was kommt danach? Nichts mehr -
gähnende Leere? Neue Ideen? Andere Formen der Wissensweitergabe? Ich weiß es
nicht. Ich stehe auf dem Sprungturm, 10 Meter über dem Wasser, das Brett wippt
gewaltig, wage ich zu springen? Ins Bodenlose, Eintauchen in das Leben, wie es
ist – für mich jetzt ist? Sterben üben …
Abends unter der Dusche – ist das wirklich noch mein Körper?
Hier Falten, dort braune Flecken auf der Haut, die Füße – viel breiter als
früher, die schmale Taille – Vergangenheit! Loslassen vom eigenen Bild des
perfekten Seins, anerkennen, dass es andere Dinge gibt, die nachhaltiger,
erstrebenswerter sind. Den Mittelweg finden zwischen sich selbst nicht wichtig
nehmen und sich selbst Wert schätzen, so wie es mein Sein benötigt und verdient
… Sterben üben.
Alte Freunde/Innen treffen, sie sind älter, einige Jahre
älter, den Abschied in ihren Augen lesen. Sehen wir uns heute zum letzten Mal …
Sterben üben.
Und all das Neue um mich herum – die neuen Formen des
Vernetzt-Seins, der Kommunikation, des Austauschs, gehe ich mit, beschreite ich
neue, für mich unbequeme Wege? Oder lasse ich sie ziehen, die Jüngeren, die
Geschickteren, die Interessierteren - in eine mir fremde, mich ängstigende,
herausfordernde Zukunft - in das Leben selbst?
Das Leben ist - und dazu gehört für mich - Sterben üben.
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