Man sagt mir nach, ich sei ein Bücherwurm, wer es gut mit mir
meint, nennt das „bibliophil“. Klingt weniger anzüglich, sagt aber im
Wesentlichen dasselbe. Das ist umso verwunderlicher, weil meine Eltern nicht
unbedingt als Bildungsbürger durchgegangen wären. In der Gegend und Zeit, aus
der sie stammten, war nach vier oder fünf Jahren die Schulkarriere in der Regel
abgeschlossen. Jedenfalls für die Normalsterblichen und unabhängig davon, was
sie tatsächlich an Anlagen mitbrachten. Bücher oder – Gott bewahre - Romane
wurden in dieser Zeit dort als Teufelszeug betrachtet. Der Konsens war, dass
man durch Bücher auf dumme Gedanken kommen konnte. Oder etwa anfing Fragen zu stellen,
sich womöglich Dinge zu wünschen, die nicht für einen bestimmt waren. Es war
die Zeit, in welcher der Begriff „Herrschaftswissen“ noch sehr, sehr wörtlich
zu nehmen war. Aber meine Eltern waren irgendwie anders. Zum einem packten sie
die Koffer und verließen ihre Heimat, zum anderen gab es bei uns immer
Zeitungen, Zeitschriften und Bücher im Haushalt. In den Jahren nach dem Krieg
war das nicht selbstverständlich, denn Druckerzeugnisse hatten einen weit
höheren Stellenwert als heute. Sie waren seltener und sie kosteten richtig
Geld. Mag sein, das dies auch durch den Inhalt gerechtfertigt war – jedenfalls geht
mir das zuweilen bei der Lektüre heutiger Werke durch den Kopf.
Kaum konnte ich lesen, pflügte ich durch die Leihbüchereien
von Pfarrei und Stadt. Ich las was mir in die Finger kam, mit einer Schlagseite
hin zu Sachbüchern und Lexika. Geschichten, in denen Technik und Zukunft vorkam, waren auch gut, Jules Verne oder Isaac Asimov zum Beispiel. Später im Beruf war
ich oft der einzige, der - aus Gewohnheit - die Bedienungsanleitungen las, was
mir zu einem Ruf der Technikaffinität verhalf. Karl May hingegen fand ich schon
immer langatmig, vor allen die Stellen wo es um Gott, Moral und die Welt an und
für sich geht. Etwas verstört hat mich Haruki Murakami - aber der ist jetzt
wirklich ein Thema für sich. Adler, Freud und C.G. Jung fand ich interessant, auch
Gustave LeBon, Edward Bernays oder Daniel Kahnemann gehören zu jenen, die mir ein paar Lichter
aufsteckten.
Einmal, im Haus einer Psychologin, stand ich beindruckt vor
der Bücherwand. Diese war in einem offenen Treppenhaus angebracht und reichte
vom Erdgeschoss über das Obergeschoss bis unter das Dach: abertausende Bücher. Das Wassermann-Zeitalter war angebrochen und viele, die sich mit
Psychologie befassten, hatten sich auf den Weg in ferne Gedankenwelten gemacht.
Manchmal sogar physisch bis nach Indien und Kalifornien. Das Thema war
Bewusstseinserweiterung, zuweilen mit etwas zum Einnehmen, manchmal mit aberwitzigen
Körperübungen oder warmen Wasser, gerne auch glühende Kohlen und hin und wieder
alles zusammen. Da erzählte also die Psychologin, ein indischer Yogalehrer mit beeindruckender
Aura hätte eben dort vor dieser Bücherwand gestanden und sie unvermittelt
gefragt: „Was suchst Du eigentlich?“
Ich war etwas perplex, denn bis dahin hatte ich das Lesen
nicht als Suche nach irgendetwas aufgefasst. Ich las aus Gewohnheit, einfach
so, weil ich es konnte. Manchmal weil ich es wissen wollte und manchmal weil es
notwendig war. Aber suchen? Dann erlebte ich diesen seltsamen Moment wo ich
irgendein persönliches Problem hatte, ich weiß noch nicht einmal mehr, worum es
ging. Was mich aber wie ein Hammerschlag traf war, dass ich mich Zeitung lesend
wiederfand und mich wunderte, dass in genau dieser Zeitung nichts über mein spezielles Problem stand.
In dem Augenblick wurde mir die ganze Absurdität dieses unbewussten Umgangs mit
Druckerzeugnissen deutlich. Danach war das Lesen nicht mehr das, was es vorher
war, es hatte die Unbekümmertheit verloren.
Heute gibt es eine Flut von Ratgebern. Manchmal bekommt man
so richtig Lust, sich das Problem zuzulegen, um aus der angebotenen Lösung
Nutzen ziehen zu können. Manche dieser Bücher befassen sich mit praktischen
Themen, sagen wir Goldfische züchten. Manche befassen sich mit der
Selbstoptimierung, wie wir schlank, schön und reich werden. Manche befassen
sich damit, ob die Welt überhaupt existiert, ob es einen Gott gibt und falls
ja, was er sich so gedacht hat und wozu uns das verpflichtet. Gerade letztere
Bücher haben mitunter erstaunliche Folgen für die Leser und ihre Umwelt. Da
erhält das geschriebene bzw. gedruckte Wort die Macht zurück, die es in früheren
Zeiten hatte. Es ist mehr als eine Sicht der Dinge, es wird zur absoluten
Wahrheit, buchstäblich zum Totschlagargument.
Die andere Geschichte, die mir dazu einfällt ist diese: In
Indien werden Elefanten als Arbeitstiere gehalten. Sie sind groß, sie sind
stark und so ein kleiner Mensch ist eigentlich kein Gegner. Nach der Arbeit
sollen die Elefanten nicht weglaufen, sondern dort bleiben, wo man sie am
nächsten Tag wiederfinden möchte. Hohe Mauern und starke Ketten fallen einem zu
einem großen und mächtigen Tier ein. Aber so wird das nicht gemacht. Der
Elefant wird Zeit seines Lebens mit einer dünnen Schnur an einen kleinen Pflock
angeleint. Sobald er den Widerstand an seinem Bein spürt, geht der Elefant
nicht weiter. Er denkt, dass er es nicht kann, weil er es als kleiner Elefant
nicht konnte. Jetzt ist er ein großes, starkes Tier und bleibt in einem kleinen
Kreis um diesen lächerlichen kleinen Pflock herum. Diese dünne Schnur, nichts
als eine Gewohnheit, definiert seinen Horizont.
Was suche ich denn jetzt in Büchern? Zum einen lese ich
nicht mehr alles was mir in die Finger kommt. Zum anderen lege ich diese Tage
schon mal ein Buch weg, ohne es ganz gelesen zu haben. Manche Bücher erweitern
den Horizont. In manchen findet man Nützliches, was man nicht gesucht hat – es
gibt sogar ein Wort dafür, auch wenn es der Duden nicht kennt: Serendipität. Diese Bücher sind das Gegenteil von
jener Schnur mit dem kleinen Pflock. Aber ich bleibe wachsam. Damit nicht
irgendwelche Elefantentreiber ihren Horizont doch noch zu meinem machen.
-Donato Casagrande-
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen